Carmen von Georges Bizet
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halevéy
Nach der Novelle von Prosper Mérimée
Musikalische Leitung: Rasmus Baumann, Peter Kattermann/Niklas Kudo
Premiere 13. März 2022
Uraufführung: 3. März 1875 Opéra-Combique, Paris
Inszenierung Rahel Thiel
Bühne Dieter Richter
Dramaturgie Anna Chernomordik
Das Liebesglück ist nicht von Dauer
Rahel Thiel inszeniert für das Musiktheater in Gelsenkirchen die Oper "Carmen“ von Georges Bizet". Szenisch steht der Freiheitsbegriff Carmens im Zentrum. Musikalisch begeisterte die Neue Philharmonie unter der Leitung von Rasmus Baumann mit einer glutvollen Gestaltung der Partitur. Füße zucken, Wangen glühen, still sitzen an diesem Abend fällt ungemein schwer.
Carmen gehört zu den meistgespielten Werken der Operngeschichte. Bereits 1905 fand in der Opéra Combique die eintausendste Aufführung statt. Die Handlung spielt 1820 in Sevilla
und basiert auf einer wahren Begebenheit. Sie bildet die Basis einer Novelle von Prosper Mérimée, die später durch die Librettisten Meilhac und Halévy zum Opernlibretto umgeschrieben wurde.
Bereits während der Entstehungsgeschichte der Oper gab es zahlreiche Überarbeitungen, die sich fortsetzten. Nach der Uraufführung erfuhr die Oper zunächst keine bemerkenswerte Resonanz. Dem
Publikum missfiel die Realität, die es zu sehen bekam (Schamlosigkeit der Titelfigur, Prostituierte, Banditen). Doch der Siegeszug der „Carmen“ war nicht mehr aufzuhalten. Sogar Nietzsche äußerte
sich in einem Kommentar: „Carmen sei die beste Oper, die es überhaupt gebe“.
Die Figur der Carmen ist zum Inbegriff von Freiheit geworden. Eine "Femme fatale", die den Untergang ihrer Liebhaber herbeiführt; die ihr Leben selbst in die Hand nimmt, die lebt, wie sie will,
liebt wie sie will und sich nimmt was sie will. Sie fühlt sich an keine Konventionen gebunden und flirtet ungeniert mit den Männern im Beisein ihres Liebhabers. (Leutnant Zuniga wird daraufhin
vom rasend eifersüchtigen Don José getötet). Dass Carmens Reaktionen unberechenbar sind, zeigt sich im Streit mit ihrer Arbeitskollegin, auf die sie sich mit dem Messer stürzt.
Das Bühnenbild von Dieter Richter präsentiert einen braunen Rundbau mit einer kleinen Tür; es stellt die Fassade einer Zigarettenfabrik dar, in der Carmen beschäftigt ist. Später ist die Bühne
zweigeteilt, gibt den Blick frei auf Lillas Pasteria. Dort feiern Carmen und ihre Freundinnen eine wilde Party. Atmosphärisch gut gelungen, ebenso wie die Schmugglerszene im 3. Akt.
Zu Beginn der Inszenierung strömen Arbeiterinnen zigarettenrauchend auf den Vorplatz. Offensichtlich haben sie Pause. Soldaten lungern herum, warten auf die Wachablösung. Als Zuniga überzeugt in dieser Szene Philip Kranjc, der interessiert die Frauen beobachtet. Carmen erscheint und singt die berühmte Habanera. Wütend bemerkt sie, dass Don José, Sergeant in Zunigas Armee, ihr keine Beachtung schenkt. Sie wirft ihm eine Blume ins Gesicht. Der Handlungsverlauf verdeutlicht, Carmen ist die dominante Figur in Rahel Thiels Inszenierung.
Gleich zu Beginn wird klar: Carmens unbedingter Freiheitswille und Don Joses Vorstellung eines bürgerlichen Lebens passen nicht zusammen. Für sie existieren weder Regeln noch Gesetze. Das
Publikum erfährt: Carmen hält es mit keinem Mann länger als sechs Monate aus. Schmerzlich konfrontiert mit ihrer Untreue: Don José, an dem sie schnell das Interesse verliert und sich stattdessen
dem Torero Escamillo zuwendet. In Thiels Inszenierung ist Lina Hoffmann „Carmen,“ die ihr Spiel mit den Männern treibt. Szenisch und musikalisch vermag sie es intensive Gefühle von Liebe, Stolz
und Wut, wie auch Verletzlichkeit der Figur authentisch umzusetzen. Auch die Verhaftung Carmens, weiß Hoffmann perfekt darzustellen. Zu sehen ist, wie sie sich vehement zur Wehr setzt, als
Don José sie an einer langen Leine auf die Bühne zerrt, nachdem sie eine Kollegin mit dem Messer verletzt hat. Fabelhaft ihr höhensicher Mezzosopran mit dem sie es vermag, präzise Stimmungen
und Koloraturen auszudrücken.
An Carmens Seite Khanyiso Gwenxane. Als unglücklicher "Don José", gibt er der Figur mit seinem beeindruckendem Spiel viel Profil. Sein lyrischer
Tenor gefällt besonders in der Gestaltung der Blumenarie "La fleur que tu m’avais jetée" . Weit davon
entfernt ein Heizsporn oder Macho zu sein, leidet er an der verschmähten Liebe.
Den Fokus richtet die Regie besonders auf Heejin Kim in der Rolle der schüchternen "Micaëla". Die Konkurrentin Carmens liebt Don José hingebungsvoll. Berührend ihre Annäherungsversuche, die offenkundig scheitern (sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um Don José nahe zu sein). Dass Micaëla ein ganz anderer Typ Frau ist, darauf weist schon ihre Kleidung hin. Renée Listerdahl hat ihr ein hochgeschlossenens Kostüm verpasst, dass für eine strenge Gouvernante passend wäre. Ihre Stimme lässt sofort aufhorchen. Mit glasglarem Sopran präsentiert sie die Seelennöte der unglücklich Verliebten voller Inbrunst.
Piotr Prochera imponiert als stolzer Torero, der das Herz Carmens im Sturm erobert. Mit kräftigem Bariton schmettert er das beliebte „Toréador, en garde!“ im zweiten Akt.
Das musikalische Vorspiel zum 4. Akt impliziert die leidenschaftliche Liebe der Spanier für den Stierkampf. Es lässt noch nicht erahnen, welche Tragödie sich anbahnt.
Für das Finale konstruiert Richter eine Stierarena, die sich nach und nach mit Schaulustigen füllt. In edlem schwarz gekleidet die Damen, die Haare nach spanischem Brauch mit züchtiger
Spitzen-Mantilla bedeckt. Sie verteilen sich auf den Rängen. Das passiert langsam, ohne Hektik, fast andächtig. Erwartet wird Escamillo, der jetzt mit Carmen liiert ist.
Die Karten haben es vorhergesagt, für Carmen offenbaren sie ein tieferes Wissen: Frasquita und Mercédès, werden mit Reichtum und Glück beschenkt, Carmen dagegen ist der Tod prophezeit. Sie
ignoriert die Warnungen ihrer Freundinnen sich vor Jose in Sicherheit zu bringen. Stolz wartet sie in der Arena, regungslos verharrend. Wohlwissend die Karten lügen nicht. Die Hände streckt sie
nach oben, wie zu Hörnern. Der Stier ist zum Kampf bereit, sie reizt Don José, stachelt ihn an und wird von ihm erstochen.
Die Figur der Carmen wirft viele Fragen auf und viele Interpretationsmöglichkeiten. So geht es in der Oper nicht nur um den Begriff der Freiheit, sondern auch um soziale Probleme. Carmen war eine
der ersten Opern, die sich mit dieser Thematik beschäftigte. In Thiels Inszenierung ist Carmen nur scheinbar eingebunden in die Gesellschaft, ihr Freiheitsdrang stellt sich dem
Herrschaftsanspruch der Männer entgegen. Doch geht sie nicht blind in ihr Verderben, sie weiß was auf sie zukommt. Die Würde kann ihr keiner nehmen,
stolz und hohen Hauptes geht sie ihren Weg bis zum bitteren Ende.
Warum beginnen Individuen bestimmte Handlungen, obwohl sie mit negativen Folgen zu rechnen haben?
Die Inszenierung liefert jede Menge Stoff für eine Diskussion.
Unter der Leitung von Rasmus Baumann explodierten die Töne aus dem Orchestergraben geradezu. Die Neue Philharmonie versteht es, Höhen und Tiefen menschlicher Empfindungen und Stimmungen zum
Klingen zu bringen. Eine hervorragende Leistung bietet an diesem Abend auch der Opernchor des MIR unter der Leitung von Alexander Eberle.
Das Publikum dankte begeistert mit langanhaltendem Applaus für den wunderbaren Abend.