Gelungener Saisonbeginn
Bizets „Carmen“ im Hagener Theater
Premiere am 14. September 2024

 

Was für eine Überraschung! Im Vorspiel dominierte nicht die Melodie, sondern die Blechbläser machten sich laut und virtuos bemerkbar. So hatte ich das noch nie gehört! Das klang wie eine Zirkuskapelle, aber was für eine! Brillant und aggressiv! Joseph Trafton hatte das Hagener Orchester perfekt eingestellt und zusammen mit der Regie die unterschiedlichen Quellen und Stile der Musik blitzsauber herausgearbeitet. Da sind natürlich die den Verismo ahnen lassenden Szenen, die durchkomponiert sind, dann aber auch die Teile, die „Spanien“ signalisieren, aber nicht unbedingt spanisch sind, schließlich die operettenhaften Szenen, die in ihrer satirischen Schärfe an Offenbachsche Operetten erinnern. Diese einzelnen Elemente dieser facettenreichen Mischung wurden klar unterschieden, ergaben ein wunderbares Ganzes in einer farbigen und spannungsreichen Inszenierung. Mal klang das Orchester eher dramatisch-klassisch, andererseits näherte es sich der Straßenmusik, zumal in rotzig-frechen Bläsersoli. Allein das zu hören war ein Genuss. Kein Wunder, dass im jubelnden Beifall die Lautstärke noch einmal größer wurde, als Trafton die Bühne betrat und den Beifall an sein Orchester weitergab.

 

Das wäre aber nur die halbe Miete gewesen, wenn die Regie das nicht ebenso umgesetzt hätte. Genau das tat sie aber. Regisseur und Dirigent hatten genauestens zusammengearbeitet und so die unterschiedlichen Facetten sehr deutlich gemacht. Dazu kamen die hervorragenden Solisten und die fulminanten Chöre.

 

Regisseur Derek Gimpel hatte sich einiges einfallen lassen, um die Handlung sinnfällig und farbig über die Rampe zu bringen. So wurde der 1. Akt von einer mit Stacheldraht gekrönten Mauer bestimmt. Das wirkt klaustrophobisch, eine Abgeschlossenheit, aus der man nicht herauskann, bestimmt auch die Bühnenbilder der anderen Akte (Bühne: Britta Lammers). Soldaten und Zigarettenarbeiterinnen sind durch die Mauer getrennt, es besteht keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme, die Männer müssen hochspringen oder -klettern, um einen Blick auf die Frauen werfen zu können. Allein Carmen gelingt es , in diese Männerdomäne einzudringen. Wenn José, in Carmen verliebt, an sie denkt, verdunkelt sich, wie sein Bewusstsein, das Licht auf der Bühne, auch in den folgenden Akten, so z.B. in der sogenannten „Blumenarie“. Sehr gut herausgearbeitet ist auch die Szene José – Micaela. Er kann mit dem Vorschlag seiner Mutter, Micaela zu heiraten, nichts anfangen, verhält sich linkisch und ungeschickt, so dass Micaela beleidigt den Platz verlässt.

 

Schlaglichter im 2. Akt: nach dem etwas ungelenken Tanz Zunigas auf dem Tisch wird das sogenannte „Schmugglerquintett“ als Revue dargestellt. Gesang und Tanz machen hier den Einfluss Offenbachs deutlich. Sehr sinnfällig wird auch dargestellt, wie Carmen José instrumentalisiert. Nach seiner „Blumenarie“ (natürlich bei gedämpften Licht, die Streicher begleiten hier kammermusikalisch mit satten Kantilenen) will sie ihn dazu bringen, in ihre Schmugglerbande einzutreten, weil sie merkt, dass es mit ihm auf Dauer nichts wird. Das zeigt besonders gut ihre narzisstische Art und ihre Liebe zur Veränderung. Der Konflikt mit José, der das Beständige liebt, aber leicht reizbar ist, tritt hier besonders offen zu Tage.

 

Im 3. Akt werden die Unterschiede zwischen beiden noch deutlicher. Bemerkenswert ist der lang ausgespielte Messerkampf zwischen José und dem Torero Escamillo. Und bevor Carmen ihre Todesahnung besingt, wird es im „Kartenterzett“ noch einmal operettenhaft lustig. Interessant ist der Anfang des Aktes: Während des Vorspiels, in der Literatur oft als musikalische Darstellung von „Carmen und Josés glücklicher Zeit“ bezeichnet, wird der Vorhang kurz geöffnet, und auf der Bühne brennt ein Feuer. Flammen der Liebe? Dann schließt sich der Vorhang wieder, wenn er sich wieder öffnet, ist das Feuer erloschen-

 

Ein Knalleffekt im 4. Akt: Die Szene vor der Arena, sonst oft weggelassen oder gekürzt, wird hier voll ausgespielt. Chor, Extra- und Kinderchor, also ungefähr sechzig Leute, tanzen und singen vor der Arena, alle liebevoll kostümiert, folkloristisch, fantasievoll, aber auch schon auf das folgende tragische Geschehen hinweisend (Kostüme: Erika Landertinger). Eine rasante Revue, sogar mit einem Tanz von Orange und Zigarette! Dann jedoch wendet sich das Blatt. José klappt ein Ehebett aus der Wand, er und Carmen legen sich in Nachtkleidung hinein, der Streit beginnt. Wenn die Arenamusik erklingt, versucht sie zu entkommen, schließlich ersticht er sie, mitten in einer Umarmung. Das ist irritierend. Soll wohl heißen, dass Femizide nicht wie in der Oper „Carmen“ nur gelegentlich auf öffentlichen Plätzen vorkommen, sondern oft und immer wieder im häuslichen Bereich. Ein wichtiger aktueller Bezug!

 

Und wenn Musik und Regie so gut zusammenpassen, werden davon auch Solisten und Chor getragen und legen sich ordentlich ins Zeug. So gab es keine Schwachpunkte, nur Spitzenleistungen. Melissa Sgouridi gab die Carmen mit voluminösem Mezzosopran, hatte in einigen charakteristischen Augenblicken auch Mut zur stimmlichen Hässlichkeit. Jongwoo Kim als Don José stellte sowohl seine Hin- und Hergerissenheit zwischen zwei Frauen als auch seine brutalen Gewaltausbrüche wunderbar dar, überzeugte auch sängerisch in jeder Hinsicht. Daran, dass der Torero Escamillo extrem selbstbewusst ist, ließ Insu Hwang, Hagener Ensemblemitglied, in Darstellung und markanter Stimmführung keinen Zweifel. Dorothea Brandt machte als Micaela  deutlich, dass sie als Carmens Gegenspielerin tatsächlich ganz andere Werte vertritt als diese. Auffallend waren ihre strahlenden Spitzentöne in ihrer Arie im 3. Akt. Auch alle kleineren Rollen waren großartig besetzt, überzeugten musikalisch und mit großer Spielfreude. Und der Chor, verstärkt vom Extrachor, sang fantastisch, agierte geschickt und schien an einigen Stellen fast das Haus zum Einsturz bringen zu wollen. Ein Leckerbissen war der Kinderchor des Theaters. Caroline Piffka hatte ihn bestmöglich vorbereitet, sein Auftritt vor allem im 1. Akt war fulminant und wurde mit großem Szenenbeifall belohnt

 

Szenenbeifall gab es oft, Riesenbeifall am Schluss. Ein toller Saisonanfang im Hagener Theater! Unbedingt hingehen!

 

Fritz Gerwinn, 17.9.2024

 

Weitere Vorstellungen: 20.9., 6.10., 10.10., 23.10., 2.11, 14.12., 22.12., 26.12.2024
5.1., 25.1.2025