Essen
Kaspar Hauser
Von Felicia Zeller
Premiere am 29. September 2012
im Grillo-Theater
Inszenierung: Thomas Ladwig
Dramaturgie: Judith Heese
Bühnenbild: Ulrich Leitner
Felicia Zeller – 1970 in Stuttgart geboren, jetzt in Berlin lebend – hat das Stück als Auftragsarbeit für das Freiburger Theater geschrieben. Die immer wieder durch die Presse veröffentlichten grausamen Kinderschicksale wie das des 2006 in einem Kühlschrank tot aufgefundenen Kevin führten auch zu immer wiederkehrenden Debatten über die Versäumnisse der Jugendämter. Felicia Zeller stellte sich der Herausforderung, dieses Milieu zu beleuchten. Die Auftragsarbeit wurde in Freiburg im Januar 2008 uraufgeführt. Im gleichen Jahr erhielt das Stück den Publikumspreis bei den Mülheimer Theatertagen. Über ihre Arbeit sagt sie: „Scheitern beschreibt hier nicht einen Skandal, sondern ist auszuhaltender Teil der Arbeit: Helfen mit Risiko.“ Felicia Zeller hat sehr genau die Arbeit der Sozialämter analysiert. Ihr Blick und damit der des Zuschauers richtet sich auf den Alltag einer Sozialarbeit, der bestimmt ist von ständiger Überforderung und einer geringen gesellschaftlichen Anerkennung durch enge Begrenzung der zur Verfügung gestellten Mittel. Gerade durch diese Beschränkung der Sicht auf die eine Partei im fortwährenden Kampf gegen Kindesmisshandlung und Verwahrlosung gelingt die Zustandsbeschreibung an dieser traurigen Front bis zur Schmerzgrenze gut.
Drei Sozialarbeiterinnen, sowieso schon mit kaum zu bewältigenden Fallzahlen betraut, müssen nun auch noch die Fälle des durch „Björn-Out-Syndrom“ ausgeschiedenen Kollegen übernehmen – Aushilfen werden wegen des begrenzten Budgets nicht eingestellt. Sie sind auch „nur“ Menschen: da ist zum einen die erfahrene Kollegin Barbara, die eigentlich davon träumt, mal endlich in Urlaub fahren zu können und sich routiniert den Fallzahlen ergibt, da ist zum anderen die gerade von der Fachhochschule gekommene Annika, die sich durch Gründlichkeit gründlich im Wege steht, sowie Silvia, die ihre Überforderung bei Moorhuhn-Spielen und durch Alkohol abreagiert. Die drei erleiden ihren Alltag, der sie statt der angestrebten Sozialarbeit zu Fallmanagerinnen gemacht hat. Sie möchten eigentlich helfen und können nur verwalten. Nie haben sie Zeit, jeden Tag ertrinken sie in einer Flut von Anforderungen und zu dokumentierenden Zuständigkeiten. Die Abwägung zwischen elterlichen Rechten und ihrer von Staats wegen auszuübenden Pflichten zermürbt sie bis zur Verzweiflung – und manchmal kommt Hilfe eben auch zu spät. Die permanente Überforderung gebiert die Unfähigkeit, sinnvolle Handlungen zu steuern. Annika als alleinerziehende Mutter gerät dabei selbst ins Blickfeld des Jugendamtes. Das alles wird in einer eindringlichen Sprache erzählt: die Sätze jagen sich, können oft nur noch in Kurzform gesprochen werden. Die Amtssprache, der Duktus der Verwalter und der Verwalteten wechseln sich ab in hohem Tempo, oft in einem abgehackten Sprachrhythmus, manchmal einzeln, manchmal zu dritt – als Zuschauer ist man gefordert und gebannt. Das hoch Dramatische schlägt dabei manchmal ins absurd Komische um: es darf auch gelacht werden an diesem Theaterabend, auch wenn das Lachen gleich anschließend im Halse stecken bleibt.
Felicia Zeller ist eine Meisterin der Sprache. Die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat ihr dieses Jahr den Georg-Büchner-Preis verliehen.
Ingrid Domann, Barbara Hirt und Silvia Weiskopf bewältigen die sprachliche und schauspielerische Herausforderung glänzend. Sie agieren in einem Bühnenbild, das die Begrenzungen ihrer Situation sichtbar macht. Da sind über- und nebeneinander gestapelte Räume, in die man sich jeden Tag hineinzwängen und abends wieder hinauszwängen muss, angefüllt mit „Fällen“ und Endlospapier. Aus diesen Räumen und aus diesen Begrenzungen gibt es kein Entkommen.
Ein begeistertes Publikum belohnt das Ensemble mit lang anhaltendem Beifall.
1.10.12/GBW